Der 82-jährige Georgi, Sohn eines Leibeigenen aus dem kleinen Dorf Kaschin in Rußland, muss den Tatsachen ins Auge sehen: seine geliebte „Soja“ wird ihn bald verlassen, sie wird sterben. Und so blickt er zurück auf die bewegte Zeit, die er mit ihr verbracht hat, mit ihr, Anastasia, der einzigen Überlebenden der Zarenfamilie.Es ist vor allem die Geschichte einer großen Liebe, die John Boyne seinen Georgi hier erzählen lässt, angelehnt an die russische Geschichte zwar, jedoch mit einer ganzen Reihe literarischen Freiheiten. In zwei alternierenden Erzählsträngen arbeitet sich der Erzähler zum zentralen Trauma seiner Frau vor, der Ermordung der Zarenfamilie im Jahr 1918.
Von der erzählten Gegenwart, London im Jahre 1981, geht er schrittweise die Jahre im Exil zurück, gefüllt mit einigen Schicksalsschlägen, geprägt auch von der Angst entdeckt zu werden und den immer wieder aufbrechenden Schuldgefühlen der überlebenden Zarentochter. Aber auch erfüllt von einer Liebe, die aufgrund der Standesschranken unter anderen Umständen nicht hätte gelebt werden können und von glücklichen Jahren mit der viel zu früh gestorbenen Tochter des Paares.
Parallel hierzu lässt Georgi den Leser daran teilhaben, wie er als 16-Jähriger bei einem Attentat die Ermordung des Vetters von Zar Nikolaus II verhindert und daraufhin nach St. Petersburg gebracht wird. Dort soll er Leibwächter des elf Jahre alten Zarewitsch Alexei werden, der nicht nur in seiner Eigenschaft als Thronfolger beständig in Gefahr ist. Sein Schützling wird ihm im Laufe der Zeit immer mehr ans Herz wachsen.
Gleich am ersten Abend sieht Georgi die 15-jährige Anastsia und verliebt sich in die unbekannte Schöne. Sie erwidert seine Gefühle und schnell entwickeln sich zarte Bande, die im aristokratischen Rußland nicht geduldet werden würden und ihn das Leben kosten könnten. Doch die beiden jungen Menshen leben in einer Zeit der Umbruchs: in einer Revolution erhebt sich das Volk gegen den Herrscher und die Zarenfamilie wird ins „Haus zur besonderen Verwendung“ gebracht.
„Sie wird mir schon bald genommen werden, und es wird für mich keinen Grund geben, ohne sie weiterzumachen. Wir sind eine Person, verstehen Sie? Wir sind GeorgiundSoja.“
Obgleich der Roman in wesentlichen Teilen eine Liebesgeschichte ist, gleitet er doch niemals in süßlichen Kitsch ab. Georgi ist kein unfehlbarer, strahlend weißer Held und auch die grundsätzlich glückliche Ehe der Beiden offenbart Risse und Schatten. Das macht beide, sowohl Soja als auch Georgi zu glaubhaften und menschlichen Figuren.
In die Schilderungen fließt die Geschichte und Politik Rußlands der Jahre 1915-1918 mit ein, jedoch überwiegend aus dem Blickwinkel der Zarenfamilie beziehungsweise Georgis als ihrem loyalen Dieners sowie die mitunter feindliche Stimmung in Paris und London, denen die beiden Exilanten sich ausgesetzt sehen. Durch das Wechselspiel der beiden Erzählstränge und Andeutungen des Erzählers entwickelt sich eine Spannung, die zum weiter lesen drängt. Der in lebendiger Sprache geschriebene außergewöhnliche Roman um GeorgiundSoja entwickelt einen Sog, dem man sich als Leser kaum entziehen kann!
John Boyne: Das Haus zur besonderen Verwendung. Roman, Übersetzt von Fritz Schneider, Arche Verlag 2010
Roman bei Amazon ansehen / bestellen
[…] Buch-Rezensionen […]