Ulla Hahns Arbeiterkind Hilla Palm in den 68er-Jahren
„Spiel der Zeit“ heißt der dritte Teil von Ulla Hahns autobiografisch gefärbter Romanreihe um Hilla Palm, dem „Kenk vun nem Prolete“, welches zum einen die schmerzhafte Vergangenheit zu überwinden lernt und zum anderen durch Bildung aufsteigt. Der erste Band, „Das verborgene Wort“, war bereits 2001 erschienen, 2009 folgte „Aufbruch“.
Der Entwicklungsroman beginnt im dritten Teil mit ihrem Umzug nach Köln, wo Hilla ein Germanistikstudium aufnimmt. Sie wohnt in einem katholischen Mädchenpensionat, genießt neu gewonnene Freiräume und Erkenntnisse, schließt Freundschaft mit Gretel. Eine tiefe Freundschaft, die durch das Schicksal fast auseinander gerissen wird.
Über allem jedoch hängen jedoch die Schatten der Vergewaltigung auf der Lichtung, die Hilla als Heranwachsende durchlitten hat. Hier erscheint als Engel in Menschengestalt Hugo, ein linkskatholischer Student, der aus einer reichen reaktionären Kölner Familie stammt und einen „Buckel“ hat. Damit ist er gleichermaßen in seiner Familie wie auch im Rest der Gesellschaft ein Außenseiter.
Die beiden lernen sich auf einem Kostümfest kennen, wo Hilla nur ungern hingeht und sich als unförmige Raupe verkleidet hat, um keinerlei Begehrlichkeiten zu wecken. Eine ähnliche Strategie scheint auch Hugo verfolgt zu haben, der sich als Käfer verkleidet hatte. Da finden sich also zwei, die gut zueinander passen. Mit ihm kann Hilla nach und nach die Verletzungen der Vergangenheit heilen.
Doch bald nachdem die Verliebten ein Paar sind, lässt der Spannungsbogen merklich nach. Für diejenigen, die diese Zeiten des Aufbruchs im Jahre 1968 nicht selber miterlebt haben – und also nicht mit Erinnerungen angesteckt werden können – geraten die wiederholten Schilderungen von Teach-ins, Studentenunruhen, Demonstrationen, Zitaten aus der Mao-Bibel und dergleichen leicht zu Längen, die sich kaugummiartig hinziehen.
All die Geschichten, dachte ich, den Arm des Vaters auf meinem spürend, all die Geschichten, die sich in den Menschen verbergen, die sie mit sich herumtragen wie ungeschriebene Bücher.
Dass Ulla Hahn Lyrikerin ist sieht man auch ihrer Prosa an, der man den Gestaltungswillen anmerkt, obwohl und gerade weil sie elegant und verspielt dahinfließt. Apropos Lyrik: einige Gedichte unterbrechen auch den Handlungsfluss, reißen den Leser aus der Fiktion. In anderer Weise tun dies auch die Passagen, in denen sich die Erzählerin spürbar macht, in dem sie sich gleichsam neben Hilla stellt und den Leser anspricht. Ist dies nur ein weiteres spielerisches Element, das Hahn, selber promovierte Germanistin, eingefügt hat? Oder gibt es einen tieferen Grund? Indem die Fiktion und damit die Identifikation unterbrochen wird, entsteht Distanz – Distanz zwischen Hilla und ihrer Erzählerin ebenso, wie Distanz zum Leser. Sie ermöglicht ein Auftauchen aus der Empathie und die Reflexion über das Erzählte. Vielleicht ermöglicht sie aber eine Selbstdistanzierung, eine Art Erhebung über das im Schreiben verarbeitete?
Am 14.03.15 las die die Autorin im Festsaal im Rathaus in Leipzig (Stichwort „Leipzig liest“) aus „Spiel der Zeit“. Davon abgesehen, dass es einfach Spaß machte ihrem Vortrag zuzuhören und ganz besonders auch dort, wo Dialoge in rheinischem Dialekt eingestreut sind, fiel ihre Haltung auf. Aufrecht saß sie da, ruhig lächelnd, eine die weiß, dass sie einen wichtigen Sieg errungen hat.
Ulla Hahn: Spiel der Zeit. Roman. DVA, 2014.
ISBN 978-3-421-04585-0
[D] 24,99 €.