Rentner Harold Fry erhält eines Tages mitten im April einen Brief von seiner ehemaligen Kollegin Queenie Hennessy. Diese liegt mit Krebs im Endstadium in einem Hospiz in Berwick upon Tweed und möchte sich mit diesen Zeilen von Harold verabschieden. Die Nachricht reißt Harold aus der sprachlosen Routine seiner Ehe mit Maureen. Zwanzig Jahre zuvor hat er Queenie das letzte Mal gesehen, sie verschwand von einem Tag auf den anderen aus der Brauerei in der sie beide arbeiteten. Harold bereut es, nie nachgeforscht zu haben, wohin sie gegangen ist und – sich bei ihr nicht bedankt zu haben. In seiner hilflosen Ohnmacht schreibt er Queenie unverzüglich eine kurze Antwort, die er sogleich in den Briefkasten werfen will. Doch aus dem Gang zu Briefkasten wird unversehens mehr. Denn als er den Kasten erreicht hat er das Gefühl das dies nicht erreicht und er mehr tun will, als der Sterbenden zwei hilflose, dürftige Sätze zu schicken. Wie um Zeit zu gewinnen läuft er zum nächsten Postkasten, dann noch weiter ohne recht zu wissen mit welchem Zweck und Ziel. Ein Gespräch mit einer Bedienung an der Tankstelle inspiriert ihn:
„Man muss daran glauben, dass ein Mensch wieder gesund werden kann. Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen. Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen.“
Und so ruft Harold im Hospiz an und lässt seiner alten Freundin ausrichten, dass er auf dem Weg zu ihr sei – zu Fuß – und diesmal werde er sie nicht im Stich lassen. Untrainiert und unzureichend ausgestattet beginnt er seine Reise zu Queenie, ohne vorher noch einmal nach Hause zurückzukehren. Der völlig irritierten Maureen teilt er seinen Entschluss telefonisch mit. Sein Weg zur Sterbenden, dies ahnt der Leser schnell, entwickelt sich auch zu einer Reise zu sich selbst: Harold reflektiert sein Verhältnis zu seinen Eltern, denen er nicht erwünscht war, seine Beziehung zu seinem Sohn David, dem er nicht der Vater sein konnte, der er gerne gewesen wäre und zu seiner Frau Maureen, die er im Grunde noch immer liebt, auch wenn sie beide nur noch stumm in verschiedene Welten eingeschlossen nebeneinander her leben. Seine Wahrnehmung der Umgebung verändert sich, sein Verhältnis zu Menschen und Natur.
Ein Journalist wird auf Harold aufmerksam, die Medien wittern in der Pilgerreise eine verflossene Romanze und stilisieren den Pilger zum Helden. Hatte Harold schon vorher viel Zuspruch und Ermunterung durch Menschen erfahren denen er begegnete, entfernt ihn der durch Presseberichte angefachte Rummel um seine Pilgerfahrt ihn von sich selber. Eine Reihe anderer „Pilger“ schließt sich ihm an, für die er sich bald verantwortlich fühlt, obwohl er nie jemanden gebeten hat mit ihn zu laufen. Bald schon scheint sein eigenes Ziel in Gefahr zu sein…
Der Roman über die 87 Tage und 1000 Kilometer lange spontane Pilgerreise ist eine tiefgründige berührende Geschichte, die sich ernsthafter Themen annimmt und sie doch mit einem feinem Lächeln und einem Fingerzeig auf das Schöne erzählt – unbedingt lesenswert! Die Charaktere sind glaubhaft und plastisch beschrieben, ebenso die Nöte und Irrwege, in denen sie sich verfangen haben. Am Ende seiner Wanderung muss Harold erkennen, dass er sein ursprüngliches Ziel nur eingeschränkt erreicht hat. Und dennoch hat er viel gewonnen, denn die Kruste ist aufgebrochen und ein echter Neubeginn wird möglich.
Die Originalausgabe, „The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry“, war eine der zwölf Titel der Longlist für den Man Booker Prize 2012.
Rachel Joyce: Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry. Roman. Aus dem Englischen von Maria Andreas, Krüger Verlag 2012