Roman einer Selbstfindung – Murakamis `Pilgerjahre´

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Autor: S. Benedict-Rux
11. November 2014

Am Freitag den 07.11.14 ist der japanische Autor Haruki Murakami mit dem Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk ausgezeichnet worden. „Murakamis genauer Blick auf die Isolation des Individuums, auf die alltäglichen ‚Verlusterfahrungen in Freundschaften, Familien- und Liebesbeziehungen weitet sich immer wieder zur Betrachtung grundsätzlicher Fragen der Conditio humana“, hieß es unter anderem in der Jurybegründung. In diesem Jahr sind zwei neue Bücher des Autors im Dumont Buchverlag erschienen, auch sie handeln von Vereinzelung und Verlust. Neben dem Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki, der im Januar erschienen ist und um den es in diesem Beitrag gehen soll, ist in diesem Monat ein Erzählband mit sieben Erzählungen erschienen, welcher in Kürze ebenfalls im Literatur Blog vorgestellt werden wird. Von Männern, die keine Frauen haben ist der Titel.

Die Pilgerjahre handeln von dem Mittdreißiger Tsukuru, welcher  in Tokio lebt und Bahnhöfe baut. Bis auf einige, eher oberflächliche Partnerschaften ist er meist Single.  Es scheint, dass er nach einer traumatischen Krise als junger Erwachsener Schwierigkeiten hat sich auf andere Menschen ernsthaft einzulassen. Als Heranwachsender war Tsukuru Mitglied einer Fünfer-Clique aus zwei Mädchen und drei Jungen. Auch als Tsukuru als Einziger nach der Schule die gemeinsame Heimatstadt Nagoya verließ um in Tokio zu studieren fühlte er sich seinen Freunden eng verbunden und besuchte sie. Von einen Tag auf den anderen war er als Zwanzigjähriger ohne Angabe von Gründen aus der Gruppe ausgestoßen worden und in eine tiefe Depression gefallen. Dieses einschneidende Erlebnis hatte sein ganzes Sein verändert, auch nachdem er die Krise überwunden und zu einem scheinbar normalen, wenn auch eher zurückgezogenem Leben zurückgefunden hatte. Doch im Alter von 36 Jahren hat er sich nun in Sara verliebt und diesmal scheint es ernster zu sein. Allein: Sara spürt, dass ihr Freund die Vergangenheit noch nicht bewältigt hat und deshalb etwas zwischen ihnen steht. Seinerzeit hatte er nicht zu fragen gewagt, warum er ausgestoßen wurde, dies soll er nun nachholen, fordert sie von ihm.

„Er war in allem mittelmäßig. Oder farblos.“

Buch bei amazon ansehen / bestellenFarblos hatte sich Tsukuru oft im Kreise seiner Freunde gefühlt, nicht nur weil er als Einziger der Clique in seinem Nachnamen keine Farbe hatte, nein, farblos auch deshalb, weil er das Gefühl hatte, anders als die anderen keine besonderen Eigenschaften zu haben – außer seiner Begeisterung für Bahnhöfe. Wie ein leeres Gefäß, das andere jeweils mit ihren eigenen Vorstellungen und Erwartungen füllen und sich dann enttäuscht von ihm abwenden, wenn sie bemerken, dass er ihnen nichts zu bieten hat.
Als er sich nun darum bemüht, aufzudecken, was damals geschehen ist, kommt Erstaunliches zutage. Nacheinander besucht er die früheren Freunde – zumindest die drei davon die noch leben – um mit ihnen darüber zu reden, was geschehen ist. Er erfährt nicht nur, dass es wegen eines ungeheuerlichen und unberechtigten Vorwurfs aus der Gruppe ausgestoßen wurde, von dem zumindest jetzt alle ausgehen, dass er nicht zutreffen kann, sondern auch, dass seine Freunde ein weitaus freundlicheres Bild von ihm und seinen Eigenschaften hatten als er selber. Tsukurus Reise in die Vergangenheit, nach Nagoya und ins ferne Finnland, wird damit zu einer Reise zu sich selbst.

Murakami ist bekannt für seine besondere Form des Magischen Realismus. In diesem Roman legt er ein paar  Fährten bei denen man als Leser erwartet, dass es auf der nächsten Seite, im nächsten Absatz kippt und die Realität zu schwimmen beginnt – aber er bedient diese Erwartungshaltung nicht wirklich, sie läuft in diesem Buch ins Leere und so dürfte mancher Leser enttäuscht sein, für den diese Elemente bei einer Murakami-Lektüre den größten Reiz ausmachen. Dennoch entwickelt der Roman, sobald man sich auf den Protagonisten und seine Nöte eingelassen hat, mit seiner klaren, einfachen und ein wenig distanzierten Sprache einen Sog. Angetrieben wird er von dem Wunsch zu erfahren, was die Ursache des Bruchs war und ob Tsukuru die Metamorphose zum Schmetterling gelingt, der die Schwere von Verlust und Trauer hinter sich lässt und aufschwingt – um die Wahl des Buchcovers durch den Verlag aufzugreifen. Wie ein Leitmotiv zieht sich das achte Stück aus Franz Liszts Sammlung Années de pèlerinage (deutsch: Pilgerjahre) durch den Roman, stiftet eine Verbindung zwischen der zarten Shiro, der es nicht gelang ihren Weg zu finden, dem jungen Haida, der Jahre später aus rätselhaften Gründen  Tsukuru ebenfalls verlassen zu haben scheint und Tsukuru selbst. Die Années von Liszt, dies am Rande vermerkt, beziehen sich auf Goethes Entwicklungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre womit das Thema des  Buches abermals symbolisch angedeutet wird.

Der Roman endet offen. Das mag zuerst unbefriedigend sein, ist aber letztlich stimmig. Bedeutender als die Frage, ob er und Sara dauerhaft ein Paar werden und wer der Mann war, mit dem er sie gesehen hat, ist der Entwicklungsschritt den der junge Herr Tazaki bei dieser „Pilgerreise“ gemacht hat. Jetzt endlich ist er bereit sich wirklich auf andere einzulassen – auf Sara oder wen auch immer. Und ungeachtet der alten Verletzungen.
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Die Übersetzung des Romans von Ursula Gräfe war in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Dies würdigt die schwierige Arbeit, die Übersetzer beim Übertragen von Literatur aus anderen Sprachen und Kulturen leisten.

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki.Roman, Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Dumont Buchverlag 2014
318 Seiten, Hardcover, Mit Folienumschlag
ISBN 978-3-8321-9748-3
EUR 22,99

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