Mauer des Schweigens wird erst nach Jahrzehnten gebrochen
von Tamari Bokuchava
Nimmt man den Roman von Lizzie Doron „Das Schweigen meiner Mutter“ zum ersten Mal in die Hand und blättert ihn durch, fällt einem vor allem die letzte Seite auf, die ein Foto der Autorin zeigt, als sie knapp acht Jahre alt war. Auf den ersten Blick ist es ein ganz normales Bild, solange man das winzige Gesicht, das sich im Gebüsch zu verstecken sucht, nicht entdeckt. Dieses Gesicht gehört dem Vater der Autorin, die mehrere Jahrzehnte lang nichts über ihn wissen durfte.
Lizzi Doron lässt ihre Rolle im Buch die Protagonistin Alisa spielen. Alisa lebt in einem Viertel von Tel Aviv, wo die Überlebenden des Holocausts ein normales Leben zu führen versuchen. Jedes Kind in diesem Viertel hat eine Familie, wie gewöhnlich: eine Mutter und einen Vater. Manche von ihnen haben sogar zwei Väter. Alisa wächst mit ihrer Mutter, einer Krankenschwester, auf, ohne je ihren Vater Jacob Roza kennengelernt zu haben. Warum aber ohne Vater? Ist er einfach nur verschwunden oder gar tot? Diese Fragen beschäftigen das kleine Mädchen in ihrer Kindheit so sehr, dass sie sie immer stärker in ihren Band ziehen. Die Antworten darauf erhält die Protagonistin von niemandem, in ihrer Kindheit und sogar als erwachsene Frau nicht. Ihre Mutter sucht meistens Schutz in der Küche; wenn die verzweifelte Alisa sie mit Fragen über ihren eigenen Vater bedrängt, schneidet sie das Gemüse oder Fleisch mit zusammengepressten Lippen und sagt nichts. Das kleine Mädchen versucht in ihrer Hilflosigkeit selbst, eine Geschichte über ihren Vater zu erfinden und malt ihn in ihren Gedanken einmal als Kapo in einem KZ oder als Partisanen gegen die Nazis aus.
Erst nach Jahrzehnten fängt die dann schon 55-jährige Alisa an, nach ihrem Vater zu suchen. Der Auslöser dafür ist eine Beerdigung, bei der sie ihre Freunde aus der Kindheit trifft. Bei der Verstorbenen handelt es sich wahrscheinlich um die letzte Person, die nach dem Tod von Alisas Mutter die meisten Informationen über den vermissten Vater bewahrte. Von da an fängt die Autorin an zu forschen und mit Hilfe von ihren Freunden wichtige Informationen über Jacob Roza zu sammeln, um dadurch ihre eigene Identität zu finden. Die Suche nach dem Vater führt sie zurück in den Kibbuz, in dem sich ihre Eltern kennenlernten. Sie spricht mit Menschen, die sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater kannten, recherchiert in Archiven, untersucht alte Fotos und setzt ihre verlorene Biographie wie ein Puzzle zusammen. Am Ende entsteht nicht nur ein Bild ihres Vaters, sondern auch ein tiefes Verständnis für ihre Mutter, die diese traurige Wahrheit ihr Leben lang ganz allein trug, um das Leben der eigenen Tochter zu schützen.
Sehr geschickt wechselt Lizzi Doron in ihrem autobiographischen Roman von der Vergangenheit in die Zukunft und gibt dem Leser dadurch die Möglichkeit, in die Phantasien eines achtjährigen Mädchens sowie in die Gedanken einer erwachsenen Frau einzutauchen. Sie erzählt leise, genau und knapp. In die dramatische und anrührende Geschichte mischt die Autorin ab und zu Galgenhumor. Trotzdem erlaubt es das Buch, auf eine schöne Weise traurig zu sein und den Roman in einem Atemzug zu lesen.
Lizzie Doron: Das Schweigen meiner Mutter, Deutscher Taschenbuch Verlag 2011
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