Ein Jonglierkunststück mit Wortbällen und Gedankenspiegeln

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Autor: Gastrezension
17. Februar 2011

Günter Grass erklärt in seinem neuen Buch „Grimms Wörter – eine Liebeserklärung“ nicht nur den Brüdern Grimm und der deutschen Sprache seine Liebe

von Christina Urban

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Die Gebrüder Grimm gelten als Begründer der Germanistik und geben Günter Grass, handschriftlich auch Graß geschrieben, einen angemessenen Aufhänger für (Auto-)Bio-graphisches. So – oder zumindest so ähnlich – würde wohl Günter Grass eine Rezension seines neuen Werkes einleiten.

Günter Grass nimmt uns mit auf eine Reise ins 18. und 19. Jahrhundert und führt uns auf den Spuren von Jacob und Wilhelm Grimm: Die Arbeit der Brüder Grimm an dem Maßstäbe setzenden ersten Wörterbuch der deutschen Sprache geht nur mühsam voran und droht immer wieder in chaotischen Zettelkästen und Bergen von Zitaten, die den Brüdern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zugesandt werden, zu ersticken. Grass schreitet den von detailversessener Akribie wie von scheinbar planlosen, neigungsgeleiteten Abschweifungen gekennzeichneten Entstehungsweg des „Deutschen Wörterbuchs“ anerkennend ab und nutzt ihn als Leitpfad, um sich von den Grimmschen Stichwörtern ausgehend assoziativ auf eigene autobiographische und zeitgeschichtliche Exkurse zu begeben.

So bewegt sich Grass beispielsweise beim Buchstaben E im Krebsgang von „Ehestand“ (in den Wilhelm nach dem gemeinsamen Beschluss der Brüder eintreten musste, um so den beiden einen geordneten Haushalt zu sichern) hin zur „Entwicklungsarbeit“ (die bisweilen für Grass aus Ermangelung eines sinnvollen „Endprodukts“ zu anhaltender „Enttäuschung“ führte), um schließlich auf das Wort „Ende“ zu stoßen, welches das Kapitel E beschließt. Dazwischen schiebt Grass ein aus lauter E’s erdachtes Gedicht, in dem er auf seine unfreiwillige Erfahrung mit dem „Erkennungsdienst“ der ehemaligen DDR anspielt.

Wie wir es von Grass gewohnt sind, bezieht er auch in seinem neuen Werk klar Stellung. Er beklagt den einen oder anderen Mangel im Grimmschen Wörterbuch, legt den Finger in manch schmerzende zeitgenössische Wunde und nimmt auch gelegentlich sich selbst nicht von seiner ehrlichen und kritischen Betrachtung aus: Unter dem Stichwort „Freiheit“ kommt Grass auf das Ende des 2. Weltkriegs zu sprechen: „Immerhin brach mein Glaubensgerüst zusammen, hinterließ eine Leerstelle, weshalb ich am Tag der bedingungslosen Kapitulation des Großdeutschen Reiches kaum begreifen konnte, was Freiheit bedeutet, was sie bewegen kann, wie teuer sie bei Verlust wird. Nur was Furcht war, wusste ich, und dass sie nun weg zu sein schien.“ So setzt Grass auch den in seinem autobiographischen Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ begonnenen Häutungsprozess fort.

Geradezu vertraulich geht der Ich-Erzähler mit den ehrwürdigen Brüdern Grimm um. Mal pirscht er sich an die im Berliner Thiergarten wandelnden Brüder heran und belauscht sie, während sie auf den verzweigten Wegen wandeln, mal blickt er ihnen am Schreibtisch über die Schulter, um den entstehenden Manuskripten Lob zu zollen, mal beschwört er sie im Hier und Jetzt herauf, um ein Zwiegespräch zu imaginieren…
Quer- und Vorausdenker, vielseitig und vielschichtig, weitläufig im Interesse und verliebt ins Detail – mit diesen Schlagworten könnte man vielleicht die Kongenialität zwischen den Brüdern Grimm und Günter Grass umreißen. Und auch Grass selbst hebt immer wieder die eine oder andere Parallele hervor.

Auf 358 Seiten erklärt Grass seinen Brüdern im Geiste und der deutschen Sprache genauso die Liebe wie seiner Ehefrau Ute, freien Gedanken und sozialem Engagement.  Dieses Werk changiert nicht nur in schillernden Worten, es gelingt ihm auch, zwischen Roman und Sachbuch, zwischen Grimmscher Biographie und Grass’scher Autobiographie die Waage zu halten. Alle Leser, die sich auf intellektuelles ‚Slow-food’ einlassen wollen, werden unter dem zunächst etwas spröden Stil eine Schatzkiste aus filigranen Wortspielen und wertvollen Ideen- und Assoziationsperlen zu Tage fördern. So wird man letztendlich Günter Grass und seinen Grimmschen Wörtern ebenso eine Liebeserklärung aussprechen müssen, wie sie Jacob Grimm an die deutsche Sprache richtet: „Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten sprache.“

Günter Grass
Grimms Wörter
Eine Liebeserklärung
Steidl Verlag, Göttingen 2010, 360 Seiten.

ISBN: 978-3-86930-155-6

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